Tatenlosigkeit hat auch ihren Preis, und es ist höchste Zeit, sich davon zu befreien, denn…Erinnern wir uns an die Kette der Ereignisse, die zum Chaos an den Grenzen Europas geführt haben. In Syrien wollte Barack Obama, trotz Einwand Frankreichs, die roten Linien, die er selbst für Bashar Al-Assad gezogen hatte, durchsetzen. Sein Nachfolger zog sich dann weitgehend aus dem Nahen Osten zurück, während Europa beschloss, nicht autonom zu handeln. Russland stürzte sich in dieses Vakuum, um in der Region neben den Regimen in Damaskus und Teheran wieder Fuß zu fassen.

Russland wurde wieder zum Global Player, während sich die westlichen Demokratien zurückzogen und Wladimir Putin beschloss, den Syrien-Konflikt zu beenden. Idlib, an der türkischen Grenze, der letzte Quadrant der Opposition, wo 900.000 Vertriebene unter dem relativen Schutz türkischer Außenposten Zuflucht gefunden hatten, Idlib sollte fallen.

In einem von der russischen Armee kontrollierten Luftraum begann die syrische Luftwaffe mit der Bombardierung dieser 900.000 Unglücklichen, die wie in einem Netz gefangen waren, ohne Krankenhäuser, ohne Vorräte, ohne die Möglichkeit zu fliehen, weil die Türkei ihre Grenze geschlossen hatte und…

Nun, nichts, noch immer nichts, denn außer Frankreich und teilweise auch Deutschland hat niemand etwas getan, und so sind wir zur letzten Konsequenz der europäischen und amerikanischen Tatenlosigkeit gekommen.

Recep Erdogan hat beschlossen, den syrisch-russischen Angriff auf seine Außenposten zu rächen. Er hat den Kampf angesagt und sich gegen die syrischen Luftangriffe und damit gegen Russland gewehrt und lässt nun, um uns Europäer in Bewegung zu bringen, die Flüchtlinge, die er versprochen hatte in seinem Land aufzunehmen, auf Griechenland zugehen.

Weil es uns weniger kostspielig erschien, zogen wir die Tatenlosigkeit dem Handeln vor, aber wir können nicht länger passiv bleiben, wir, die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die Union kann sich nicht mehr gleichzeitig schuldig machen, dass sie es versäumt hat, 900.000 Menschen in Gefahr zu helfen, Konflikte an ihren Grenzen zuzulassen, eine solche Passivität anzunehmen, ihre Nichtexistenz in die Welt herauszuschreien und sich am Ende in das hineinziehen zu lassen, vor dem sie sich so sehr fürchtet: die Rückkehr der Geschichte und der Kriege.

Mit 27 Staaten und sogar 28, wenn Großbritannien sich uns anschließt, verfügen wir über genügend Mittel, um den Luftraum dieser Region für die syrische Luftfahrt zu sperren und mit einer Klappe vier Fliegen zu schlagen, dem Märtyrertod der Vertriebenen von Idlib ein Ende zu setzen, die syrisch-türkischen Auseinandersetzungen zu beenden, die Möglichkeit eines russisch-türkischen Konflikts auszuschließen und die Türkei dazu zu bringen, auf die Erpressung der Öffnung ihrer Grenzen zur Union zu verzichten.

Es geht nicht darum, dass wir das syrische Regime stürzen. Es würde uns nicht in den Krieg ziehen, aber diese Einmischung, die uns die Menschenwürde und unsere Interessen gebieten, würde uns, das ist eine Tatsache, mit Russland, den Herren des syrischen Himmels, konfrontieren. Es besteht ein Machtgleichgewicht, und es ist so sehr zu unserem Nachteil, dass die europäischen Luftstreitkräfte ohne die Mobilisierung amerikanischer Ressourcen durch die NATO nicht über die Mittel verfügen würden, um einzugreifen.

In einer Zeit, in der sich Donald Trump von überall zurückzieht, wäre es sicher nicht leicht, ihn zu überzeugen, an unserer Seite einzugreifen. Es wäre nicht unerlässlich und könnte sogar kontraproduktiv sein, aber zumindest könnten wir den Vereinigten Staaten gegenüber dann argumentieren, dass sie die NATO obsolet machen würden, wenn sie uns ihre logistische Unterstützung verweigern würden.

Die Amerikaner würden dies hören, und das Drama von Idlib und seine Entwicklungen zeigen somit die unterschiedlichen Prioritäten zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union, die daraus resultierende Notwendigkeit der strategischen Autonomie Europas und die Notwendigkeit des Fortbestehens des Atlantischen Bündnisses, innerhalb dessen es nun eine Arbeitsteilung zwischen seiner amerikanischen und europäischen Säule geben muss.

Für uns Europäer ist diese Krise ein Test.

Sind wir weitsichtig genug, um die Gefahren zu verstehen, die das Chaos für unsere Mark darstellt? Haben wir den Willen, die damit verbundene Verantwortung zu übernehmen? Genug Einigkeit, um die Union angesichts der sie bedrohenden Herausforderungen bestehen zu lassen?

Das wissen wir nicht. Ich weiß es nicht, aber ich bin sicher, dass es nicht in unserem Interesse wäre, unsere Prinzipien der Menschlichkeit zu verspotten, indem wir das Schicksal der 900 000 Menschen aus Idlib nicht beachten, oder zwei neue Kriege an unseren Grenzen zulassen, oder dabei zusehen, wie die extreme Rechte eine Hehl aus neuen Flüchtlingen macht, oder uns erneut zwischen Ländern, die das Asylrecht respektieren, und Ländern, die dies als nichts anderes als tödlich altmodisch ansehen, hin- und herzureißen.

Wenn man das Feuer ignoriert, verbrennt man, und es wäre sicherlich nicht in unserem Interesse, unsere Kräfte nicht einmal zu einem Zeitpunkt mobilisieren zu können, wenn wir endlich die Notwendigkeit einer europäischen Verteidigung anerkannt haben. Wir beginnen mit der Arbeit an einem Panzer und einem Kampfflugzeug. Es gibt estnische Soldaten in Mali und französische Soldaten in Estland. Nicht einmal in Warschau wird die Idee einer gemeinsamen Verteidigung mehr in Frage gestellt, und wir würden nicht den gemeinsamen Willen finden, auch nicht bei einigen wenigen, eine Flugverbotszone über Idlib zu organisieren?

Wenn wir darauf verzichten, sollten wir sofort auf jeglichen Existenzanspruch verzichten. Lasst uns, aber ohne Stimmrecht, zu amerikanischen Untertanen oder Vasallen Chinas und zur Mark Russlands werden. Sprechen wir nicht mehr von einem vereinten Europa, denn schauen wir uns Mal die Welt an.

Emmanuel Macron hat mehr als eine Hauptstadt beleidigt, indem er den „Hirntod“ der NATO feststellte, aber was würde es bedeuten, wenn das Atlantische Bündnis die zweitgrößte seiner Armeen, die türkische Armee, gegen die russische Armee allein lassen würde, ohne die Baschar al-Assad sie niemals hätte angreifen können?

Viele werden zweifellos sagen, dass sei sehr gut, perfekt, dass Recep Erdogan nur das kriegt, was er verdient, und Pech gehabt, für diesen Diktator, der immer verrückter und verrückter wird, aber nein! Man würde dann festzustellen, dass es die NATO überhaupt nicht mehr gibt, dass sie nicht hirntot, sondern schlechthin tot ist, da es keinen Piloten mehr in Washington gibt, kein Europa, das weiß, wie man gegen Bedrohungen reagieren soll und noch weniger ein Europa der Verteidigung.

Achtung! Wenn wir nichts tun, wenn wir nicht mehr reagieren als gestern in Georgien und heute in der Ukraine, dann haben wir dem Kreml mitgeteilt, dass ihm nichts verboten sei, weil das Weiße Haus woanders ist und wir nicht die Kühnheit haben, zu existieren.

Auf diese Weise kommt es zum Krieg, und das unter den schlimmsten Bedingungen. Auf diese Weise würden wir auch die Gelegenheit verpassen, mit Russland Gespräche über die Suche nach einem Modus Vivendi zwischen den beiden Säulen des europäischen Kontinents, der Europäischen Union und der Russischen Föderation, zu beginnen. Wir müssen natürlich mit dem russischen Präsidenten sprechen. Das ist notwendig. Es wird immer wichtiger, mit ihm Wege der Koexistenz und dann der Zusammenarbeit zu suchen, aber dafür brauchen wir eine starke Union. Wir müssen in der Lage sein, mit dem größten Land der Welt auf gleicher Augenhöhe zu sprechen, und wir werden nicht erfolgreich sein, wenn wir es erlauben das zu tun, was was es in Idlib getan hat.

Bernard Guetta – MdEP, Renew Fraktion, Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten

Dieser Leitartikel Ist am 2. März in Liberation erschienen

https://www.liberation.fr/debats/2020/03/02/syrie-le-prix-de-l-inaction_1780270

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