Interview veröffentlicht in Le Point.fr am 30. März 2020

Der Europaabgeordnete der Renew Fraktion lehnt die Unvermeidbarkeit der europäischen Uneinigkeit über einen wirtschaftlichen Investitionsplan ab. Er skizziert einen Kompromiss zwischen den Schwätzern und den Fleißigen.

von Emmanuel Berretta

Die Europäer sind geteilter Meinung über die Möglichkeit, sich gemeinsam zu verschulden, um die Wirtschaft nach der Krise wieder anzukurbeln, wobei der portugiesische Premierminister Costa auf den Niederländer Mark Rutte wütend ist. Es gibt vier Länder (Deutschland, Österreich, die Niederlande und Finnland), die sich weigern, die mit dieser Krise verbundenen Schulden zu teilen. Bernard Guetta, heute Abgeordneter der Fraktion Renew (Liberale-Macronisten) und Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Straßburger Parlaments, analysiert für Le Point diesen Wendepunkt im europäischen Aufbauwerk und die großen internationalen Umwälzungen, die durch das Coronavirus verursacht wurden.

Le Point: Glauben Sie, dass die Spaltung der Europäer in Bezug auf die gemeinsamen Schulden das europäische Projekt gefährdet, wie Präsident Macron es sagt?

Bernard Guetta: Diese Divergenz ist nichts Neues. Sie ist sogar mit dem Fortschritt unserer Einheit vereinbar, da die tugendhaftesten Staaten sich immer geweigert haben, die Verschuldung der Union als solche zuzulassen, weil sie keine „Eurobonds“ garantieren wollten, die die Defizite der ausgabestärksten Länder finanzieren würden. Diese Ablehnung war eine der Bedingungen, an die die Einführung der gemeinsamen Währung geknüpft war.

Meiner Meinung nach war dies ein Fehler, aber, wie es die Notwendigkeit erfordert, haben neun Staaten, darunter Frankreich, öffentlich für die Inanspruchnahme eines gemeinsamen Darlehens Stellung bezogen. Ihre Zahl wächst und sie könnten bald die Mehrheit der 27 darstellen. Deutschland selbst beginnt zu zögern, und es gibt einen Weg – ich plädiere dafür, und es ist eine Idee, die im Kommen ist -, diese Meinungsverschiedenheit schnell zu überwinden.

Welche?

SIe wäre, und zwar unverzüglich, gemeinsam Geld zu leihen, aber nur für innovative und gemeinsam definierte Projekte, nicht zur Finanzierung nationaler Defizite, sondern für gemeinsame Zukunftsinvestitionen der Union. Heute müssen wir in die medizinische Forschung, die Verlagerung der pharmazeutischen Produktion innerhalb der Grenzen der Union und die Schaffung gemeinsamer Lagerbestände an paramedizinischer Ausrüstung investieren. Keine der 27 Hauptstädte würde dagegen sein. Kein vernünftiger Mensch würde bestreiten, dass wir dies gemeinsam tun sollten, und schon vor dieser Pandemie waren wir uns alle einig, in die Industrien der Zukunft, insbesondere in die künstliche Intelligenz, zu investieren und die Grundlagen für eine europäische Rüstungsindustrie zu schaffen, ohne die es keine gemeinsame Verteidigung geben wird.

Lassen Sie uns das also tun und diese gemeinsamen Investitionen durch gemeinsame Kreditaufnahme finanzieren, die wir, wie ich vorschlage, auf Englisch „Recovery Bonds“ und auf Französisch „Bons du rétablissement“ nennen. Die Haushalte der Staaten, aller Mitgliedstaaten, würden indirekt entlastet. In finanzieller Hinsicht wäre dies keineswegs verschwenderisch, sondern sogar logisch – Konservativ im besten Sinne des Wortes – und wir würden nichts anderes tun als uns einfach auf die Lösung der finanziellen Probleme zubewegen, die durch eine Krise entstanden sind, die niemand verschuldet hat und deren Opfer wir alle sind.

Über die unmittelbare Gegenwart hinaus, über die Dringlichkeit hinaus, würden wir auch große Fortschritte für unsere Einheit machen, indem wir uns angewöhnen, gemeinsam in unsere gemeinsamen Bedürfnisse zu investieren, intelligent zu handeln, mit anderen Worten, zum Wohle aller. In diesem Drama kann die politische Einheit Europas erheblich vertieft werden, und vielleicht sind wir nicht so weit davon entfernt, wie wir denken.

Was für ein Europa kann sich aus den Trümmern unserer Volkswirtschaften erheben?

Verschließen wir doch die Augen und rennen in die Katastrophe. Überzeugen wir uns davon, dass wir uneinig sein sollten, weil die Union uns nicht vor dem Fehlverhalten eines neuen Virus bewahren konnte, vor dem sich kein Land – zum Beispiel China oder die Vereinigten Staaten – schützen konnte, und wir werden die Schwächung erleben, die die Uneinigkeit gegenüber den anderen Großmächten, die sich ihrerseits als Staaten konstituieren, verursachen würde.

Wir haben die Wahl, und diese Wahl hängt jetzt viel weniger von unseren 27 Regierungen als von uns, den Bürgern, ab. Entweder führt die Angst dazu, dass wir auf die schlechten Hirten der nationalen Herde hören, oder wir drängen unsere Regierungen dazu, unsere Einheit durch gemeinsame Industriepolitik, gesamteuropäische Forschung und Investitionen, gemeinsame Verteidigung und gemeinsame Universitäten zu vertiefen. Weil sie die Führung haben, neigen unsere Regierungen zur Vernunft, also die Vertiefung unserer Einheit, aber sie befürchten, dass die öffentliche Meinung, die von diesen neuen intellektuellen Eliten bearbeitet werden, die im Nationalismus, in der Ablehnung der Aufklärung und im Autoritarismus vereint sind, nicht mitzieht.

Also, ja, es liegt an uns, den Bürgern, zu sehen, dass die Union nicht dafür kritisiert werden kann, dass sie angesichts dieser Pandemie keine gemeinsame Politik festgelegt hat, obwohl die Gesundheit nicht Sache der Union, sondern der Mitgliedstaaten ist, und dass wir, wenn wir nicht die föderale Option wählen, ihr auch nicht vorwerfen können, dass sie keine gemeinsame Exekutive hat. Es liegt wirklich an uns, den Bürgern, zu sehen, dass die Union immer noch nur die Summe ihrer Mitgliedstaaten, eine Union der Nationalstaaten ist, und dass unsere Einheit und unsere gemeinsamen Institutionen in dieser Krise nicht so schlecht funktioniert haben, ganz im Gegenteil.

Ohne dass einer der Mitgliedstaaten Einwände erhoben hat, konnte die Kommission Haushaltsregeln umgehen, die in den Augen der Mehrheit der 27 Hauptstädte unantastbar waren. Die Zentralbank konnte die Panik an den Märkten beruhigen, indem sie beispiellose Geldmengen auf den Tisch legte. Deutschland selbst hat intern die Religion des ausgeglichenen Haushalte aufgegeben, um seine KMUs verteidigen zu können. Die Union hat reagiert und agiert jetzt viel tiefer und viel einvernehmlicher und schneller als je zuvor, insbesondere nicht wie im Jahr 2008. Unsere Einheit kann zerbrechen. Das ist eine Möglichkeit, die ebenso wenig ausgeschlossen werden kann und auch Emmanuel Macron nicht ausschliesst, aber ich würde wie er lieber auf das Gegenteil setzen, denn wer will schon Verantwortung für ein allgemeines ‘’Rettet-sich-wer-kann” Szenario übernehmen, bei dem wir uns alle auf der Suche nach dem Ausweg auf die Füße treten werden? Weil die Not uns dazu zwingt, glaube ich, dass wir uns zusammenschließen werden.

Wie Xi Jinping und leider auch wie Donald Trump will Wladimir Putin nicht, dass sich die Europäische Union als politische Macht durchsetzt.

Das chinesische Regime hat offensichtlich die Wahrheit verschwiegen. Ihre Methode der Ausgangssperre  hat das ganze Ausmaß ihres repressiven Arsenals offenbart. Haben Ihrer Meinung nach die liberalen Demokratien sowohl den Kampf um Effizienz als auch den Kampf um die Kommunikation verloren?

Der Kommunikation, ja, sicher. Wir sind dabei diese Schlacht zu verlieren, weil es diesem Regime gelingt, uns vergessen zu lassen, dass es China war, das den Informanten, diese jungen und edlen Ärzte, die sehr früh vergeblich Alarm geschlagen hatten, einen Maulkorb verpasst hatte. Somit haben China und die Welt zwei wertvolle Monate verloren, die wir jetzt tragisch bezahlen.

Das ist kein Beweis für ihre Wirksamkeit, sondern für ihre tragische Ineffizienz, für die absolute Schädlichkeit der fehlenden Freiheiten, die die chinesische Diktatur gerade verwaltet hat und nun ihre Hilfe verkauft. Sie bietet sie nicht an, sondern verkauft sie, wobei sie sich die Tatsache zunutze macht, dass sie zur Fabrik der Welt, in diesem Fall zur Maskenfabrik, geworden ist, dank des Wettlaufs zum niedrigsten Anbieter, der durch den Triumph des Reagano-Thatcherismus anfang der 1980er Jahre eröffnet wurde.

Der Neoliberalismus war sicherlich nicht nur schlecht. Er hat Hunderte von Millionen von Menschen aus dem absoluten Elend geholt, aber wenn es heute eine Gewissheit gibt, dann die, dass die Thatcher-Ära so sicher zu Ende geht, wie die Maastricht-Regeln begraben sind, und dass wir eine Rückkehr von Keynes, eine Neubewertung der Rolle des Staates und vielleicht, wie ich glauben möchte, die Anfänge einer europäischen öffentlichen Macht erleben.

Wladimir Putin tat so, als würde er den Italienern medizinische Hilfsgüter schicken. Und schließlich schickte er Soldaten… Wie interpretieren Sie diese Geste?

Wie Xi Jinping und leider auch wie Donald Trump will Wladimir Putin nicht, dass sich die Europäische Union als politische Macht durchsetzt, denn dann müsste man sie in betracht ziehen, wirtschaftlich und politisch. Um Mauriac zu paraphrasieren, diese drei lieben Europa so sehr, dass sie es vorziehen würden, es gäbe 27 davon.

Aber ein Wort zu Russland selbst.

Die Schwächung des iranischen Regimes ist so groß, dass Putin dabei ist seinen einzigen Verbündeten im Nahen Osten zu verlieren. Der komplizierte Orient könnte für ihn durchaus ein neues Afghanistan werden oder das, was Vietnam für die Vereinigten Staaten war. Gleichzeitig verschlechtern die sinkenden Ölpreise die Situation seiner Wirtschaft, während seine Popularität stetig abnimmt. Die Pandemie – auch wenn sie in Russland angeblich fast inexistent ist – hat nun eine Verschiebung des institutionellen Referendums erzwungen, mit dem er sich politisch erneuern wollte. Kurz gesagt, Russland braucht die Europäische Union, und sein Präsident täte gut daran, in seinem eigenen Interesse damit aufzuhören, das Land mit orchestrierten Gerüchten und falscher Unterstützung zu destabilisieren, um zu erreichen, dass die Sanktionen erhoben werden, die die 27 nach der Aufhebung der ukrainischen Krise gegen ihn verhängt haben.

Donald Trump hat angesichts dieses Virus so gut wie alles gesagt und das Gegenteil davon. Sein wirtschaftlicher Erfolg ist bedroht. Ist die amerikanische Präsidentschaftswahl, von der ihm gesagt wurde, dass es eine sichere Sache für Trump sei, aus Sicht der Demokraten wieder offen?

Was vor einem Monat noch nicht der Fall war, ist nun wahr geworden. Die Demokraten können nun im November gewinnen, und wir, Europäer sollten beten, dass sie es tun, denn die Demokratien müssen dringend gegen autoritäre nationalistische Regime, sei es in China, Indien oder Russland, antreten.

Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 gab es drei gegensätzliche Modelle, die beiden Totalitarismen und den New Deal der amerikanischen Demokratie. Heute, wenn die Pandemie besiegt ist, wenn die Zeit des Wiederaufbaus gekommen ist, wird es die liberale Demokratie sein, und dieses chinesische Modell, die Hinzufügung der schlimmsten Brutalitäten des ungezügelten Kapitalismus und der Kommunismus, die in diesem Jahrhundert konkurrieren werden.

Wir müssen nicht nur die Europäische Union als Bastion der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit bekräftigen, sondern die europäischen Demokraten sollten sich so bald wie möglich mit denjenigen beraten, die sich in Joe Bidens Team auf die Zukunft vorbereiten, damit sich die beiden Seiten des Atlantiks in einem Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Union, zwischen zwei gleichberechtigten Mächten, die nun auf der Grundlage eines fairen Gesellschaftsvertrags wieder aufgebaut werden sollen, wieder einander annähern können.

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