Es ist nicht nur am Aktienmarkt, wo man im Abschwung kaufen muss. Man muss es auch in der Politik tun, und für die Europäische Union ist es daher der Zeitpunkt, Russland in einer Zeit, in der sich ihre Schwierigkeiten vervielfachen und der Handlungsspielraum seines Präsidenten schrumpft, neue Perspektiven zu eröffnen.

Der 75. Jahrestag der Kapitulation Nazi-Deutschlands sollte Wladimir Putin am Samstag die Gelegenheit geben, seine Armeen vor einer Gruppe ausländischer Staatsmänner, die auf den Roten Platz eingeladen waren, vorzuführen. Dies sollte eine Wiederauferstehung der russischen Macht markieren, aber wegen der Pandemie, ist es im Moment einer ganz anderen Parade, der man in Moskau beiwohnt: die der Krankenwagen, die vor den Krankenhäusern blockiert sind, die keine Patienten mehr aufnehmen können.

Wie Donald Trump zahlt Wladimir Putin heute den Preis für seine Weigerung, die Bedrohung durch das Coronavirus wahrzunehmen, aber er leidet, erstens, auch unter der Verpflichtung, die ihm Covid-19 auferlegt hat, das Referendum zu verschieben, dank dessen er 2024 die Macht über die beiden von der Verfassung genehmigten aufeinanderfolgenden Wahlperioden hätte behalten sollen, zweitens, unter dem Zusammenbruch des Ölpreises, der wichtigsten Ressource seines Landes; drittens unter der Unsicherheit über die Mittel zur Aufrechterhaltung seiner Macht; viertens unter den Komplikationen im Nahen Osten, die durch die Schwächung seines iranischen Verbündeten und die Rivalitäten in der Familie des syrischen Präsidenten, verursacht werden; fünftens und am Wichtigsten unter dem ständigen Rückgang des Lebensstandards der Russen, die die Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen nach der Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ostukraine spüren.

Zwanzig Jahre nach seiner ersten Wahl ist Wladimir Putin so außer Atem, dass uns diese Situation allmählich an das Jahr 1999 erinnert, als die beiden dominierenden Kräfte im postkommunistischen Russland, die Reichen und die Sicherheitskräfte, die Oligarchen und die Silowiki, zu dem Schluss kamen, dass Boris Jelzins Alkoholismus, Korruption und wachsende Unbeliebtheit sowohl Russlands Macht als auch ihre politische Stabilität bedroht hätten.

Damals war Wladimir Putin gerade erst zum Chef des FSB befördert worden, des ehemaligen KGB, für dessen Geheimdienst er in Deutschland stationiert war. Er hatte viele Bekanntschaften, weil er hohe Positionen in der Kreml-Administration bekleidet hatte, aber die Russen kannten diesen Mann im Hintergrund nicht, den das Geld und der Staat in wenigen Monaten zur Rolle des Premierminister, Übergangs-Präsident und Präsident katapultieren würden.

Im Gegensatz zu Boris Jelzin kontrolliert Wladimir Putin die Funktionsweise der Macht gut genug, um sich nicht wie ein Neuling absetzen zu lassen. Die Geschichte wird sich wahrscheinlich nicht wiederholen, aber die Oligarchen, die Silowiki und der Kreml müssen jetzt einen Ausweg finden.

Sie müssen einen wirtschaftlichen Zusammenbruch, die Eskalation der sozialen Unzufriedenheit und ein Durcheinander im Nahen Osten und in der Ukraine vermeiden. Die Europäische Union ihrerseits bräuchte natürlich eine Russische Föderation, in der sie im Austausch für garantierte Energielieferungen investieren könnte und die zur Stabilisierung des Nahen Ostens und des europäischen Kontinents beitragen würde, anstatt Unordnung und Tod zu säen.

Seite an Seite könnten die Union und die Föderation eine föderale Lösung in Syrien, die Bestätigung der Ukraine und Georgiens als Brücken zwischen den 27 und Russland und eine gemeinsame wirtschaftliche Wiederbelebung der beiden Säulen des Kontinents durch eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit fördern.

Russland ist auf der Suche nach sich selbst. In den kommenden Monaten wird Russland zunehmend auf sich selbst gestellt sein, und es läge im Interesse der Union, Russland eine europäische Perspektive zu eröffnen und ihm die Aushandlung neuer Helsinki-Abkommen anzubieten, in deren Rahmen Russland glaubwürdige Garantien für die Sicherheit ausländischer Investitionen und die Achtung der ukrainischen und georgischen Souveränität bieten müsste.

Das mag nicht gelingen, aber es würde nichts kosten, zu versuchen, dem, was das russische Geld und der russische Mittelstand wollen, Glaubwürdigkeit zu verleihen: die Verankerung ihres Landes in Europa.

Print Friendly, PDF & Email

English Français Magyar Polski