Wladimir Putin taucht in die Geschichte ein, um den Demokratien eine Botschaft zu überbringen. Die Vorkriegszeit, der Krieg und die internationale Ordnung, die die Sieger nach dem Krieg aufgebaut hatten, wie er soeben zum fünfundsiebzigsten Jahrestag der Niederlage der Nazis geschrieben hat, sollen beweisen, dass die damaligen Alliierten ihre Reihen schließen müssen, weil ihr Kondominium für die internationale Stabilität, die ihre „Pflicht“ zu verteidigen ist, unverzichtbar ist.

In einem langen 55.000 Zeichen Text, der sich über 25 Seiten erstreckt, sind es zwar nur Andeutungen, zwischen den Zeilen, aber je weiter man dieses Pensum liest, desto deutlicher wird die Bedeutung und desto mehr Fragen stellen sich.

Wieso tut der Mann so, der so eifrig alle demokratischen Fortschritte der Perestroika rückgängig machen wollte, der die Krim annektiert und Krieg in der Ostukraine geführt hat, der Aleppo so schrecklich bombardiert hat und der sich darauf vorbereitet, die Verfassung zu ändern, um die Kontinuität seiner Herrschaft zu sichern, warum drängt dieser Autokrat, der den Tod des politischen Liberalismus verordnet hat, jetzt diese Demokratien, die er verachtet und schwächen will, und ist entschlossen, zur Errichtung einer „gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft“ mit Russland.

Für viele ist die Antwort klar. Er hält ihnen eine Fata Morgana vor, sagen sie, eine Fata Morgana, deren einziger Zweck es ist, sie zu täuschen und zu spalten. Dies ist durchaus möglich. Man kann es nicht ausschließen, aber Vorsicht! Diese Sachen dachten bereits viele Sowjetologen, Journalisten und Diplomaten während der Gorbatschow-Jahre. Wir wissen, was diese Fehleinschätzung die Welt gekostet hat, aber Tatsache ist auch, dass Putin nicht Gorbatschow ist und, dass wir den einen nicht beim Wort nehmen sollten, weil wir einen Fehler gemacht haben, nur weil wir den anderen nicht geglaubt haben.

Im Gegenteil, wir müssen uns vor Naivität hüten, aber diese notwendige Vorsicht darf uns nicht dazu zwingen, nur an dieser ersten Hypothese festzuhalten und nicht zu sehen, dass es eine zweite gibt, die einer Prüfung würdiger ist.

Wladimir Putin steckt in Schwierigkeiten und ist genauso in Schwierigkeiten wie das Sowjetregime Mitte der 1980er Jahre war. Die Gewalt, mit der die Pandemie Russland getroffen hat, und die Warteschlangen der Krankenwagen vor den Krankenhäusern Moskaus haben gerade die baufällige Infrastruktur dessen aufgezeigt, was mehr denn je als „arme Macht“ bezeichnet werden muss. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung hat folglich gerade erst zugenommen, während es schon lange her ist, dass der ständige Rückgang des Lebensstandards die Popularität dieses Präsidenten, der sich auf dem Höhepunkt des Kampfes gegen Covid 19 in seiner Datscha versteckte, sinken ließ. Wladimir Putin hat nichts mehr von dem jungen Mann mit all den Muskeln, der versprach den demütigenden Rückzug Russlands zu rächen, und die Abnutzung dieses Supermans in Atemnot wird offensichtlich, während sich wirtschaftliche und geopolitische Schwierigkeiten in Russland häufen.

Die Verlangsamung der Weltwirtschaft und die wachsende Furcht vor der globalen Erwärmung werden sich nachhaltig auf die Preise für fossile Brennstoffe und alle Rohstoffe auswirken. Russland kann sich nicht länger auf das verlassen, was früher ihre wichtigste Ressource war. Die russische Wirtschaft muss sich neu erfinden, und wenn es für niemanden leicht ist, so erst recht nicht für dieses müde Land, dessen Bevölkerung so desillusioniert und dessen Isolation so tief ist.

In Europa sind die einzigen Freunde Russlands Frau Le Pen, Herr Orban und Herr Salvini sowie intellektuelle Strömungen, die von Hass auf die Aufklärung und Nostalgie für das Schwert und das Kreuz geprägt sind. In den Vereinigten Staaten würde ein Sieg von Joe Biden die Front der westlichen Demokratien enger zusammenrücken lassen, während eine Wiederwahl von Donald Trump der russischen Diplomatie nichts mehr garantieren würde als permanente Unsicherheit. Im Nahen Osten lassen die Schwächung des iranischen Regimes und die extreme Fragilität von Baschar al-Assad Russland in einer zunehmend chaotischen Region allein. An den asiatischen Grenzen dieser anderen Hälfte Europas schließlich stellt China Russland vor die Herausforderung einer aufsteigenden Macht, die bereit ist, es zu vasallisieren, wenn es auf der internationalen Bühne keine Unterstützung findet.

Kurz gesagt, Russland müsste diesen neuen modus vivendi mit den westlichen Mächten, auf den Herr Putin zu hoffen scheint, unbedingt erreichen. Darüber lässt sich kaum streiten, und die Demokratien ihrerseits hätten nichts zu gewinnen, wenn sie eine echte chinesisch-russische Annäherung zulassen, wenn sie sich einem militärischen Ansturm Russlands ausgesetzt sehen und wenn sie die wirtschaftliche Chance verlieren, zur Entwicklung und Modernisierung des größten Landes der Welt beizutragen.

Es gibt viele gemeinsame Interessen, die zu ignorieren falsch wäre, aber man kann es im Gegensatz anders beurteilen, und viele tun es, nämlich, dass die Demokratien besser den Sturz von Wladimir Putin abwarten sollten, als ihn durch den Umgang mit ihm wieder in den Sattel zu heben. Man könnte auch denken, dass sein Text viel zu viele Freiheiten in Bezug auf die Wahrhaftigkeit der Tatsachen nimmt, als dass wir mit ihm das Minimum an Vertrauen aufbauen könnten, das für die Aufnahme vertiefter Gespräche notwendig ist. Das ist das Dilemma. Es gibt einerseits gute Gründe, nicht zu hören, was der russische Präsident soeben andeutet gesagt hat, aber es wäre andererseits, nicht einsehen zu wollen, dass er sich in einer Position der Schwäche befindet und dass seine Art, die Geschichte umzuschreiben, indem er Wahrheiten mit so vielen schamlosen Lügen vermischt, darauf abzielt, Russland von aller Sünde zu reinigen, um es zu einem vollwertigen Mitglied dieses Klubs von Mächten zu machen, von deren Wiederaufbau Wladimir Putin träumen würde.

Denn was sagt er? Nun, nachdem er geschrieben hat, was stimmt, dass der Zweite Weltkrieg weitgehend in den Ungerechtigkeiten des Versailler Vertrags verwurzelt war, will er uns davon überzeugen, dass Russland keine andere Wahl gehabt hätte als den deutsch-sowjetischen Pakt, weil Polen vor den Nazis ein Auge zugedrückt hätte und Frankreich und das Vereinigte Königreich sich in München vor Hitler gebeugt hätten. Wladimir Putin nutzt die Schande von München, um eine unendlich größere Schande zu rechtfertigen, die Schande, mit der Stalin am Vorabend des Einmarsches in Polen mit Hitler eine Teilung Mitteleuropas zwischen der UdSSR und Deutschland vereinbart hatte.

Die Art und Weise, wie Wladimir Putin unbekümmert schreibt, es sei zum Schutz der Polen vor den Nazis gewesen, dass sowjetische Truppen in den Teil Polens einmarschiert seien, den der Pakt der UdSSR vorbehalten hat, ist einfach abscheulich. Ebenso abscheulich ist die Darstellung der Annexion der baltischen Staaten als seie diese aus freiem Willen erfolgt. Das Schweigen darüber, wie Stalin den Nazis erlaubte, den Warschauer Aufstand zu zerschlagen und dann die gemarterte Stadt und das gemarterte Land zu übernehmen, ist überwältigend zynisch.

Alles in diesem Text ist schrecklich unangenehm und beunruhigend, aber davon abgesehen…

Abgesehen davon, dass Wladimir Putin zu Recht darauf hinweist, dass Hitler an der russischen Front den Boden unter den Füßen verlor und dass die von den Alliierten festgelegten Spielregeln der Nachkriegszeit – Multilateralismus, die UNO und das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates – trotz des Kalten Krieges und der Gewalt der Randkonflikte einen Dritten Weltkrieg verhindert hatten. Lassen Sie uns, sagt er, zu dem Machtgleichgewicht zurückkehren, das wir waren. Lasst uns, sagt er, diesen Klub der großen und alten Nationen neu errichten, die die Welt regierten und teilten und deren Adel so viele Verbrechen verbarg.

Dieser Club besteht aus den Vereinigten Staaten, Russland, China und Europa, natürlich über Frankreich und Großbritannien. Der Vorschlag des russischen Präsidenten war nicht absurd, denn er könnte helfen, den Weg zurück zum Multilateralismus zu finden, bevor der Unilateralismus die Welt in Brand setzt, aber es liegt an Ihnen, Herr Putin, Ihre Karten zu zeigen.

Was schlagen Sie für den Nahen Osten, Libyen, Europa (einschliesslich der Türkei) oder die Zentralafrikanische Republik vor? Es liegt nun an Ihnen, es zu sagen. Es liegt an Ihnen, die Menschen von Ihrem guten Glauben und Ihrem Wunsch zu überzeugen, Russlands Größe wiederherzustellen, indem Sie dafür sorgen, dass es zur Stabilität in der Welt beiträgt. Wir warten ab, ungeduldig und aufmerksam.

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