Was, wenn es gar nicht inkonsistent wäre? Was, wenn im Gegenteil die Art und Weise, wie die Vereinigten Staaten gerade die Dauerhaftigkeit ihrer Beziehungen zum saudischen Königreich beteuert haben, während sie den Kronprinzen als Anstifter der Ermordung von Jamal Khashoggi bezeichneten, einen Präzedenzfall darstellt, der eine neue Doktrin begründet?

Am Freitag, in den Minuten nach der Veröffentlichung des CIA-Berichts, in dem erklärt wird, dass Mohammed ben Salmans Vertraute diesen Regimegegner nicht hätten ermorden können, wenn der Kronprinz sie nicht darum gebeten hätte, waren CNN-Journalisten, Korrespondenten und Analysten mit ihrem Latein am Ende. Aber schließlich, so sagten sie, ist der regierende Herrscher 85 Jahre alt, sein Sohn hat seit einigen Jahren das Kommando übernommen und kontrolliert alles so gut, dass ihn nichts daran hindern wird, die Nachfolge seines Vaters anzutreten, wenn die Zeit gekommen ist, und was werden die Vereinigten Staaten dann tun? Werden sie ihre Beziehungen zu Riad abbrechen? Sie beibehalten, aber sich weigern, einen Attentäter im Weißen Haus zu empfangen? Oder wird Amerika nun, wie wir zwischen den Zeilen hören, eine Palastrevolution favorisieren, die es aus dieser misslichen Lage herausholen würde?

Diese Ratlosigkeit bleibt ganz allgemein, denn während nur wenige Menschen diesen Wunsch missbilligen, die Dinge beim Namen zu nennen und „MBS“ als Attentäter zu bezeichnen, kann man sich auch nicht vorstellen, was der nächste Schritt sein könnte, den jede politische Entscheidung vorhersehen muss.

Man fragt sich, sucht, vermutet, sieht aber nicht, dass der nächste Zug einfach der jetzige ist.

Mit der Veröffentlichung dieses CIA-Berichts, den Donald Trump als geheim eingestuft hatte, hat Joe Biden soeben allen Regimen der Welt, ob Freunden oder Gegnern, Verbündeten oder Feinden, mitgeteilt, dass die Vereinigten Staaten nicht länger beabsichtigen, und sei es auch nur durch ihr Schweigen, sich an politischen Morden oder Verfolgungen mitschuldig zu machen, und dass sie nicht länger zögern werden, alle Menschenrechtsverletzungen und deren Täter anzuprangern. Indem er es ablehnte, MBS persönlich zu sanktionieren, teilte er der Welt auch mit, dass die Vereinigten Staaten offensichtlich nicht so weit gehen würden, gegen ihre nationalen Interessen und die gemeinsame Notwendigkeit, die Beziehungen zu allen bestehenden Ländern aufrechtzuerhalten, zu verstoßen.

Das ist in der Tat eine Doktrin, die hier gerade vorgetragen wurde, und, damit niemand daran zweifelt, es war in Saudi-Arabien, bei den Verbündeten der Verbündeten, wo sie zuerst angewendet wurde. Joe Biden brauchte einen Monat, um sich in Riad vorzustellen, denn Jamal Khashoggi war nicht nur Saudi, sondern auch Leitartikler bei der Washington Post, einer der beiden größten amerikanischen Tageszeitungen. Nach dieser Phase der Missbilligung ruft Joe Biden König Salman an, den Gesprächspartner, den ihm das Protokoll zuweist, und nicht diesen Kronprinzen, der vorerst nur Verteidigungsminister ist, den Donald Trump aber eifrig kultiviert hat. Dies ist die zweite Stufe und mit der Veröffentlichung dieses CIA-Berichts kommt nun die dritte.

Die Botschaft ist, erstens, dass die Vereinigten Staaten einen Kriminellen nicht schmeicheln sollten, weil sie Saudi-Arabien brauchen und Saudi-Arabien sie braucht, und zweitens, dass, wenn dieser Kriminelle auf dem Thron endet, ihn das nicht zu einem demokratischen Freund des Weißen Hauses machen wird, aber es wird auch nichts an der Notwendigkeit der Allianz zwischen den beiden Ländern ändern.

Das mag vielen Staatsführern der Welt zu denken geben, und wenn nicht, kann man den Vereinigten Staaten zumindest nicht mehr vorwerfen, dass sie ihre Prinzipien vergessen, sobald sie ihrer Staatsräson in die Quere kommen.

Die Biden-Doktrin besagt, dass keine Regierung die Interessen ihres Landes ignorieren darf, dass aber auch keine Demokratie ein Auge zudrücken sollte, wenn sie die Menschenrechte missachtet, und dass darin kein praktischer Widerspruch liegt. Die Vereinigten Staaten hatten gerade ein falsches Dilemma überwunden, in dem die Demokratien zu lange gefangen waren. Es ist nun zu hoffen, dass die Vereinigten Staaten an dieser Doktrin festhalten und dass die Europäische Union sich in ihren Beziehungen zu China und Russland davon inspirieren lassen kann.

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