Wir waren sechs, wir werden bald 36 sein, und eines Tages werden es noch mehr sein. Wir können es nicht sehen, weil es unvorstellbar ist, aber als der französische und der rumänische Präsident, der deutsche Bundeskanzler und der italienische Ministerpräsident in Kiew sagten, sie seien dafür, der Ukraine diese Woche den Status eines Kandidatenlandes zu verleihen, haben sie tatsächlich den Weg für die vollständige Einheit des europäischen Kontinents von Lissabon bis Wladiwostok geebnet.

Denn schließlich werden wir an dem Tag, an dem acht weitere Staaten – die Ukraine, Moldawien, Georgien, Mazedonien, Albanien, Montenegro, Serbien, Kosovo und Bosnien und Herzegowina – der Union beigetreten sind, zwangsläufig und unausweichlich die künftigen Beziehungen zwischen dieser 36er-Union und ihren türkischen und russischen Nachbarn festlegen müssen.

Es ist möglich, dass eine demokratisierte Türkei dann der Europäischen Union beitreten wird. Es ist weit weniger wahrscheinlich, dass die Russische Föderation, selbst wenn sie die Diktatur überwunden hat und fest in der Demokratie verankert ist, diesen Schritt gehen wird, da dieses Land so groß ist und noch lange an der Behauptung seiner Autonomie festhalten wird. Wir wissen es noch nicht, da wir nicht einmal wissen, wie und wann der Krieg in der Ukraine enden wird, aber alles wird letztendlich darauf hinauslaufen, dass die EU 36 und ihre beiden Nachbarn in ein durch Sicherheits- und Kooperationsabkommen strukturiertes Ganzes eingebunden werden.

An diesem Tag wird der Kontinent Europa neben den USA und China zu den drei Hauptakteuren auf der internationalen Bühne gehören, und das muss geschehen, denn es liegt im Interesse Russlands, das sonst am Ende von China vasallisiert werden würde, im Interesse der Türkei, die seit zwei Jahrhunderten alles daran setzt, sich an Europa anzudocken, und natürlich im Interesse der Union, deren Sicherheit ohne eine dauerhafte Verständigung mit ihren beiden östlichen Nachbarn niemals gewährleistet sein wird.

Politische Notwendigkeiten, geografische Logik und wirtschaftliche Komplementaritäten – alles zwingt die Union dazu, die gesamteuropäische Einheit zu ihrem langfristigen strategischen Ziel zu machen, aber wie kann man den Erfolg eines so schwierigen und unsicheren Unterfangens sicherstellen?

Als Erstes gilt es, Russland nicht in imperiale Nostalgien verfallen zu lassen, die ganz Europa schnell in endlose Kriege stürzen würden, und sich aus diesem Grund der Leugnung der ukrainischen Unabhängigkeit zu widersetzen. Wie Emmanuel Macron in Kiew sagte, muss die Ukraine die Mittel haben, „Widerstand zu leisten und zu siegen“, nicht damit Russland dadurch herabgesetzt wird, sondern damit die Unantastbarkeit der Grenzen und die Achtung der nationalen Souveränität auf unserem Kontinent wieder zur Regel werden.

Zweitens muss die Integration der neun Länder, die an die Tür der Union klopfen, gelingen, ohne dass die europäischen Institutionen dadurch gelähmt werden. Gleichzeitig dürfen diese Länder nicht 20 Jahre oder länger im Vorzimmer der Union bleiben, ohne dass sie von der Einhaltung der politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Standards befreit werden, die heute für die 27 Mitgliedstaaten gelten.

Diese doppelte Aufforderung mag widersprüchlich erscheinen, ist es aber nur, wenn man sich beharrlich weigert, die Union neu zu erfinden und sie in ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten mit unterschiedlichen Integrationsniveaus umzuwandeln. Die Union sollte zu einer dreistufigen Rakete werden, deren oberste Stufe aus der politischen Union der Staaten besteht, die in den Bereichen Verteidigung, Außenpolitik und Investitionen in Zukunftsindustrien schneller und weiter vorankommen wollen. Auf der zweiten Ebene würden sich die Länder befinden, die bei der heutigen Union bleiben wollen, die aber durch die Ablehnung von Steuerdumping und die allgemeine Einführung der Einheitswährung gestärkt werden soll. An der Basis schließlich würde die erste Ebene aus den Beitrittsländern bestehen, die dem Binnenmarkt beitreten und sich verpflichten würden, die Regeln der Rechtsstaatlichkeit und die Grundsätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einzuhalten.

Diese erweiterte Union, die aus den drei Stufen der Europäischen Union besteht, könnte sich dann an Russland wenden und ihm sagen, dass wir ihm nicht feindlich gesinnt sind, dass wir keinen Quadratzentimeter seines Territoriums annektieren wollen und stattdessen immer engere, vertrauensvollere und für beide Seiten vorteilhafte Beziehungen zu ihm aufbauen möchten.

Kurz gesagt, wir dürfen uns nicht damit begnügen, der Ukraine den Status eines Kandidatenlandes zu verleihen. Wir müssen gleichzeitig all das tun, wozu uns dieser Schritt verpflichtet: erstens, der Ukraine helfen, die Aggression gegen sie abzuwehren; zweitens, die EU-Institutionen völlig neu überdenken; und drittens, uns an Russland wenden – an alle seine Generationen, Regionen und sozialen Schichten – und ihm sagen, dass wir unseren gemeinsamen Kontinent, Europa, unser gemeinsames Haus gemeinsam aufbauen müssen.

Print Friendly, PDF & Email

English Français Magyar Polski