Interview erschienen im Vif/L’Express du 07-11-2019 – Interview: Gérald Papy

Für Bernard Guetta, ehemaliger Journalist und Europaabgeordneter der Renaissance liste, war der Übergang zur Marktwirtschaft der Zentraleuropäischen Staaten ein Erfolg. Aber die Schocktherapie um das zu erreichen erklärt den Rückgang der Demokratie.

In ihrem letzten Buch, L’enquête hongroise (puis polonaise, italienne et autrichienne), machen Sie darauf aufmerksam dass die Staaten, die die illiberale Demokratie predigen die Staaten sind, die dem Austro-ungarischem Reich entsprechen. Die Nostalgie einer vergangenen Größe erklärt Sie die Unliebe der Demokratie?

Es gibt auf jeden Fall Nostalgie über die Macht und die Ausstrahlung des Österreichischen und danach Austro-ungarischem Reichs im neunzehnten Jahrhundert. Man muss auch sagen, dass dieser wichtige Teil des Europäischen Kontinents zutiefst reaktionär war. Der Staat war verletzt, richtig verängstigt, von der Modernität, die damals Frankreich und Großbritannien verkörperten. In dieser Epoche herrschte ein sehr starkes Anti-West Gefühl, dass in einer unveränderbaren sozialen Ordnung, im Vorrang der katholischen oder evangelischen Kirche und auch im imperialistischem Erbe verwurzelt war. Dieser Anti-Okzidentalismus, der bereits von den Vereinigten Staaten und von Deutschland genährt wird, drückt sich in einer sehr tiefen Abneigung der Aufklärung, der Ideen der französischen Revolution, der Republik, der ‘‘Freiheit‘‘, ‘‘Gleichheit‘‘ und ‘‘Brüderlichkeit‘‘ und sowie einer Abneigung der Evolution der Sitten aus. Das ist sehr wichtig. In ganz Westeuropa, wird man sich nicht bewusst was für ein unglaublicher kultureller Shock das darstellen kann, für einen Teil der Bevölkerung dieser Länder, die Einführung der homosexuellen Ehe. Für Sie ist es als ob wir den Kannibalismus legalisiert hätten. Hinzu kommt noch, dass wir nicht, auf jeden Fall nicht mehrheitlich, eine Animosität gegenüber dem Islam zeigen. Diese Einstellung führt zu einem vollkommenen Unverständnis in Zentraleuropa, dass aus dem offensichtlichem Grund, dass diese Staaten vom Ottomanischem Reich, und das vor kurzer Zeit noch, geschichtlich gesehen, besetzt oder im Fall Österreichs: fast besetzt wurden. Die Gelassenheit bezüglich der muslimischen Einwanderung wirkt in diesen Staaten wie ein Leichtsinn gegenüber einer neuen Invasion.

Die Befürchtungen gegenüber dem Islam oder der Freigabe der westlichen Sitten sind Sie nicht auch durch die demografische Fragilität dieser Länder begründet?

Auf jeden Fall. Es sind die Länder, dessen Jugend das Land für Deutschland, Frankreich, Belgien oder Großbritannien verlassen haben. Die mutigsten, die mit den meisten Abschlüssen, die besten in den Fremdsprachen haben ihr Leben irgendwo anders geführt. Wahrscheinlich werden Sie nicht zurückkommen. Diese Länder durchleben eine Angst der Irrelevanz durch die Absorption ihrer Jugend durch diese verfluchten westlichen Staaten und was als ein mohammedanischer Zwang an ihren Grenzen gespürt wird.

Wie haben die kommunistische Zeit und der schwierige Übergang zur Demokratie zur illiberalen Demokratie geführt?

Der Übergang zur Marktwirtschaft und zur Demokratie waren ein unglaublicher Erfolg. Wer, wie ich, diese Staaten in den Siebzigern und Achtzigern kannte und sie heute wieder betrachtet erfährt einen erstaunlichen Wandel. Die Geschwindigkeit mit dem der Wandel stattgefunden hat, hat dazu geführt, dass die unter vierzigjährigen nicht mehr wissen was der Kommunismus ist und die Erkenntnis, dass diese Staaten funktionieren und großes wirtschaftliches Wachstum erfahren, ist ein Erfolg. Aber Sie hat dazu geführt, während ungefähr fünfzehn Jahren, bei einem so hohen Preis, da die Schocktherapie weit davon entfernt ist verheilt zu sein. Selbst jetzt, da jeder gut oder besser lebt, gleicht das nicht die Brutalität dieser Therapie, besonders in Polen und weniger in Ungarn, aus. In einer Hälfte der Bevölkerung herrscht das Gefühl, auch wenn man es nicht so formuliert, dass die Kommunisten nicht so Unrecht hatten, dass die Marktwirtschaft der Triumph der Halunken ist. Das hat zum Aufblühen, erst in Russland, dann in Ungarn und Polen, der illiberalen Demokratie geführt. Was enthält dieses Projekt? Es ist ein politisches Regime, wo es immer Wahlen gab. Aber die Wahl ist verfälscht durch den Würgegriff der Macht über die großen Kommunikationsmittel, die allgegenwärtige Propaganda, schwer und gewaltsam. Die Wahlen, zumindest in Zentraleuropa werden nicht manipuliert. Als Beweis: die Opposition hat in Budapest triumphiert und in den zehn größten ungarischen Städten. Die Demokratie existiert dort. Aber sie ist illiberal, weil sie nicht die Redefreiheit respektiert, den Pluralismus, die Unabhängigkeit der Justiz, alles was eine echte Demokratie ausmacht nämlich die Existenz starker Gegenkräfte.

Einer der Gesprächspartners ihres Buches, András Lánczi, der Rektor der Corvinus Universität in Budapest lobt die ‘‘Demokratie der Mehrheit‘‘ Ungarns, die sich außerhalb der Wahlen lebt…

Ich glaube eher, dass die ‘’Demokratie der Mehrheit’’ bedeutet, für ihn, dass sich einmal, wenn sich die Mehrheit ausgedrückt hat, die Minoritäten nichts als zu schweigen haben. Es ist die Demokratie des Faktes der Mehrheit. Aber die echte Demokratie drückt gerade den Respekt für Minoritäten, ethnisch oder kulturell, aber auch politisch, aus. Diese ‘‘Demokratie der Mehrheit‘‘ ist diese die Viktor Orbán und Jaroslaw Kaczynski einführen wollen und die, die Vladimir Poutine bereits eingestellt hat. Aber selbst in Russland funktioniert es nicht so gut. Ein Paar ‘‘schlechte Angewohnheiten‘‘ wurden angenommen. Und man kann heute nicht die Wahlstrafe ignorieren. Sonst reiht man sich in die Kategorien der angenommen Diktaturen ein, aber das hilft nicht weiter…

Wie erklären Sie die Unklarheit dieser Regierung Zentraleuropas, die die Union kritisieren, aber obwohl der vorausgehenden Brexits, nicht Europa verlassen wollen?

Wenn Ungarn und Polen aus der europäischen Union austreten würden dann würden Sie sich von einem hauptsächlichem Motor ihres Wachstums trennen, den Strukturfonds. Man redet nicht von einem Austritt der europäischen Union, weil ihre Führungskräfte nicht verrückt sind. Nicht nur wollen Sie nicht aus der Union austreten. Aber sie bilden mit den anderen Staaten eine Front gegen Großbritannien in den Brexit Verhandlungen.

Was halten Sie von der Theorie Viktor Orbáns, die besagt, dass der wirkliche Schmelztiegel der europäischen Werte sich in Zentraleuropa befindet?

Für Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński ist Europa das Christliche, oder besser der klerikale Apparat des Christentums in seiner konservativsten und reaktionärsten Vision. Für Sie ist Europa eine homogene Bevölkerung, weiß, katholisch oder protestantisch, aber christlich, jüdisch vielleicht, aber arabisch und muslimisch sicher nicht. Das ist die puristische Moral des neunzehnten Jahrhunderts. Und wir, in den Ländern des Westen Europas, wir sind die unbewussten, aber aktiven und schrecklich gefährlichen, Agenten einer organisierten Dekadenz.

Wie kann man den Graben zwischen so unterschiedliche Tendenzen in einem demokratischem Ensemble wie die Europäische Union überwinden? Muss man dieser anderen Lebensansicht Zugeständnisse machen?

Wie überkommt man den Unterschied in einer Demokratie zwischen den Konservativen, den Progressisten, zwischen den Anhängern der sexuellen Revolution und den Verfechtern der Jungfräulichkeit bis zur Hochzeitsnacht? Man überkommt den Unterschied in Spannung, in Notlage, genau durch die Demokratie. Der Dissens ist groß in der Europäischen Union. Aber zwischen Francois Hollande, der Promoter der Homosexuellen Ehe, und die Gegner dieser Bewegung, gab es auch Spannungen. Es gab einen richtigen Bruch. Er wurde von der Demokratie überkommen.

Wie erklären Sie sich dass in Ungarn und auch in Polen, die Linke so umgewälzt wird?

Wie erklären Sie sich, dass Sie in Frankreich fast ausgewalzt ist und, dass sie in Deutschland so zurückgedrängt wird? Überall auf der Welt sind die Progressiven in Krise. Möglicherweise wegen einer Panne von Ideen. Das ist nicht das erste Mal, dass das passiert. Aber vielleicht, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, gelangen wir zu einem Wendepunkt. Was man in den vielen Demonstrationen, die die Welt auf ihrem fünf Kontinenten seit sechs Monaten aufrütteln, ist die Forderung nach politischer Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, es ist oftmals der Kampf gegen die Korruption sowie das Vertreiben der unfähigen und Korrupten. Hier drückt sich die Forderung nach einer Rückkehr des Staates als Verfechter der schwächsten, als Schiedsrichter zwischen Kapital und Arbeit, nach vierzig Jahren uneingeschränkter Triumph der neoliberalen Ideen, des Thatcherismus, aus. Vielleicht wohnen wir gerade einer großen Rückkehr Keynes und des Staates als Schiedsrichter bei. Und wenn, es ist nicht sicher aber nicht unmöglich, dass Donald Trump in einem Jahr geschlagen wird, dann wird das auf jeden Fall durch einen demokratischen Kandidaten sein, der weit links steht als es die Vereinigten Staaten seit Roosevelt und des neuen Deals kennen. Vielleicht könnte aus diesen Vereinigten Staaten, was für ein Wunder, die Rückkehr der Linken kommen.

Im Gegenteil, stellt die sehr linke Orientierung für die Vereinigten Staaten der Favoriten der demokratischen Investitur eine Behinderung um Trump zu schlagen dar?

Man neigt dazu von außen gesehen, besonders in Europa. Man sagt, dass man jemandem wie Bill oder Hilary Clinton braucht, wie Tony Blair, wie Emmanuel Macron eine Persönlichkeit, die sehr moderat mittelinks oder mitterechts steht um gegen Trump zu gewinnen um die Unabhängigen zu gewinnen. Vielleicht begehen wir einen Fehler. Ein amerikanischer Freund von mir, reich geworden in der digitalen Wirtschaft und sehr links, sagte mir: ‚‚Sie sehen nicht die starke Umstellung, sehr deutlich, nach links der amerikanischen Sichtweise ‘‘. Seine Meinung hat mich erschüttert.

Print Friendly, PDF & Email

English Français Magyar Polski