Erschienen in der Zeitschrift L’HISTOIRE / N°464 / OKTOBER 2019

60 / DOSSIER  Die demokratische Transition im Osten

Interview mit Bernard Guetta

Für Bernard Guetta ist die EU-Aufnahme der ehemaligen Oststaaten im Jahre 2004 ein Erfolg, der schon hätte seit 1989 vollzogen worden sein.

‘‘Man hätte die Oststaaten sofort nach der Begeisterung folgend dem Mauerfall integrieren sollen, wie es die Visegrad Staaten wollten. Selbst wenn ‘‘zwei Zirkel‘‘, wie Mitterand es vorschlug, entstanden wären. Wir haben es nicht geschafft Kapital aus der Zeit der Freuden auf beiden Seiten der Mauer zu ziehen und daraus unser Fundament zu machen. Hingegen haben uns zu viel auf den ‘‘wirtschaftlichen Übergang und auf die ‘‘Umsetzung der gemeinschaftlichen Errungenschaften‘‘ fokussiert und diese technokratische Kühle war sicher keine gute Sache. Als fünfzehn Jahre später, also in 2004, nach unerhörten wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Anstrengungen die ex-kommunistischen Staaten diese Konditionen erfüllt hatten, hatte niemand mehr wirklich Lust auf Sie.

Stellen Sie sich vor für einen Moment: die Befreiung Paris’ ohne die Menschenmenge des Champs-Elysees. Die erste Rede des Generals de Gaulle richtet sich an die bevorstehenden Anstrengungen für den Wiederaufbau. Dazu wird dieser bevorstehende Moment von Beamten vollzogen, die ohne die mindere Gemütsregung noch politische Inspiration agieren. Nur so werden Sie verstehen was nach dem Mauerfall den Oststaaten widerfahren ist.

Wenn die Erweiterung endlich erreicht war, fühlten diese Staaten jedoch einen immensen Stolz und noch mehr Hoffnung. Als Sie alle Opfer, die ihnen die Union abverlangt hatte, erbracht hatten, wurden sie die gleiche, oder ähnliche, Opulenz Paris`, Londons, Wiens oder Berlins erfahren. Jeder dachte das würde geschehen, dennoch war das nicht der Fall und deshalb war die Enttäuschung immens. „All dies für das?“ sagten sich Viele. Mit noch mehr Bestürzung wurde die Krise 2008 wahrgenommen, die auf totale und brutale Art und Weise die internationalen ökonomischen Institutionen, die Europäische Kommission und alle westlichen Wirtschaftsgurus, die den ex-kommunistischen Staaten die Schocktherapie aufgezwungen hatten, demysthifizierte.

Die Zentraleuropäischen Staaten mit ihren rechtsradikalen Parteien und Regierungen sowie mit ihren Linksradikalen, sind mehrheitlich sehr europakritisch, wagen es aber nie einen EU-Ausschluss zu fordern. Jede Führungskraft die das vorschlagen würde, würde politischen Selbstmord begehen, denn es gibt einen tiefen Stolz zum Klub der Reichen und demokratischen Länder zu gehören. Die Zugehörigkeit an diese Union bringt auch die Solidarität dieser weiterentwickelten Länder und daher auch einen Beitrag an ‘‘strukturellen‘‘ Geldern, ohne den die Dinge ganz anders wären. Wie es das schon für Spanien und Portugal der Fall war, hat die Europäische Union dazu beigetragen das sich die Entwicklung und Bereicherung dieser Länder beschleunigte. Nehmen Sie einen Zug in der Umgebung von Budapest und ihnen wird auffallen, dass der Zug hundertmal moderner als ein Zug der Pariser Vorstadt ist. Die Züge sind einfach so neu wie die Zugehörigkeit Ungarns an die Europäische Union. Jeder weißt das, doch es hält nicht von Enttäuschungen ab, dass die soziale und wirtschaftliche Entwicklung weniger schnell vorangeschritten ist als sich überwältigende Ungleichheiten gebildet haben.

Außerdem sind diese Staaten – auch wenn Polen demografisch und wirtschaftlich ein großes Gewicht hat – als zweitklassige Mitglieder angesehen. Nein Sie wissen es und es schmerzt Sie, doch es existiert eine kulturelle Diskrepanz zwischen den westlichen und den östlichen Staaten. In Westeuropa bereits erreicht, ist die Legalisation der Homo-Ehe nicht, aber ganz und gar nicht, bei vielen Bürgern östlicher Länder anerkannt. Bei den jungen Stadtbewohnern, kein Problem. Auf dem Land und in den religiösen Kreisen hingegen ist die Homosexuelle Ehe unvorstellbar. Es ist vollkommen unverständlich. Es ist als ob wir im Westen den Kannibalismus legalisiert hätten. Die Entwicklung der Sitten ist in unseren Ländern sehr schnell vorangetrieben worden, wohingegen in Zentraleuropa, aus dieser Sichtweise, wir noch ein Vierteljahrhundert oder mehr zurückliegen. Das ist noch nicht alles, da hier noch die Migrationsfrage hinzukommt.

Die Öffnung der Grenzen durch Frau Merkel in 2015 blieb vollkommen unverstanden und wurde eher als Verrat Europas an die mohammedanische Invasion angesehen. In diesen Staaten war also die unmittelbare Besessenheit die Grenzen zu schließen und sich selbst zu verbarrikadieren. Das war keine einstimmige jedoch tiefverwurzelte Bewegung, denn die Geschichte spielte hier eine wichtige Rolle. Frankreich vergaß Poitiers. Zentraleuropa hingegen, konnte nicht vergessen, dass die ottomanische Armee 1529 bis zu den Toren Wiens vorgedrungen war und dass es der Mobilisation der polnischen Truppen bedurfte ums sie zu retten. Der Balkan, Ungarn, Rumänien, Bulgarien lebten sehr lange unter ottomanischer Besetzung. Jeder muslimische Staat wird in Zentraleuropa als Ottoman angesehen. Als Resultat gibt es daher unvermeidlicherweise einen größeren Nationalismus in diesen Staaten, die ihre Unabhängigkeit erst 1989 wiedererrangen.

Letztens, gab es schon zur Zeit der Habsburger Monarchie, dessen Grenzen ungefähr auf den Kilometer denen der zentraleuropäischen Staaten entsprachen, eine große Feindseligkeit gegenüber dem Abendland. Was im neunzehnten Jahrhundert der Wahrheit entsprach, galt auch in den dreißiger Jahren im Ungarn des Regenten Horthy und Polens Pilsudzki und diese Bestürzung und panische Angst vor der Veränderung, die von den westlichen Staaten dargestellt ist, findet man unverändert unter Jaroslaw Kaczinsky und Viktor Orban. Im Habsburger Reich waren die Modernisierungskräfte die Kaiserfamilie, die Armee sowie das jüdische Großbürgertum, also die Kräfte die am Fortbestand des Reichs und daher an die Eindämmung des Nationalismus. Das gehört zwar zur Vergangenheit, aber wirkt umso gegenwärtiger, da Brüssel nunmehr sowie Wien angesehen wird: Die Hauptstadt eines neuen Reiches das sich sträubt, sowie es zuvor, gegen verschiedene Arten des Nationalismus, der, wie die westliche Modernität, verletzt ist durch jede Politik, die Grenzen überschreitet.

Auferstanden aus vergessenen Jahrhunderten und genähert durch eine wachsende Rolle der europäischen Politik und Institutionen stellen dies wichtige Probleme dar. Diese Probleme sind so facettenreich, dass man oft über neue Divisionen der EU diskutiert, jedoch bleibt die Integration der Staaten Zentraleuropas ein wichtiger Erfolg. Die ungarische Wirtschaft entwickelt sich sehr dynamisch. Budapest hat sich weitgehend modernisiert. Dank talentierter Architekten findet sich Warschau heute eine junge und unglaublich ökonomisch dynamische Stadt. Schönheit und Scharm, die vor zur zwanzig Jahren unvorstellbar gewesen wären. Wer diese Länder noch im Kommunismus kannte findet die Frage nach dem Erfolg oder Misserfolg der Integration lächerlich. Auf jeden Fall war es ein Erfolg.

(aufgezeichnet von Quentin Paillé)

 

Der Autor

Bernard Guetta war Korrespondent bei ‘‘Le Monde’’ in Zentraleuropa und in der ehemaligen Sowjetunion in den achtziger Jahren und Chronist auf France Inter von 1991 bis 2018. Er ist Europaabgeordneter (Renaissance) seit Juni 2019. Sein letztes Werk ist L’Enquête hongroise (Flammarion, 2019).

 

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